Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Ich wende mich heute, am Vorabend des Inkrafttretens des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik direkt an Sie, weil wir alle gemeinsam morgen, am 1. Juli, einen großen, einen entscheidenden Schritt in Richtung Einheit gehen. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion schafft ganz wesentliche Voraussetzungen für die Verwirklichung der deutschen Einheit. Sie ist die Brücke für die Vereinigung beider deutscher Staaten.

Manchem geht das alles zu schnell. Ich kann dieses Gefühl gut verstehen. Denn noch vor einigen Monaten waren die Vorzeichen in unserem Land ganz anderer Art. Der Westen war weit und für die meisten gar nicht erreichbar. Heute sind wir zusammengerückt. Wir sind ein Volk. Im Lande herrschte ein System, dem gegenüber viele von uns eine Haltung eingenommen hatten, die auch bei eigener Selbstkritik vertretbar erschien. Man hatte gelernt, sich mittreiben zu lassen, ohne sich in das System zu verstricken.

Die Monate Oktober und November 1989 brachten dann den großen Umbruch. Es war das Erwachen wie nach einem Alptraum Immer wieder hört man, immer wieder sagt man selbst: Wer hätte das vor einem Jahr gedacht Wer hätte geglaubt, dass in einem Jahr die Mauer fällt und alles ganz anders sein würde. Man kann es eigentlich auch heute immer noch nicht recht glauben, dass das SED-Regime, das wie ein Bollwerk gegen die Freiheit stand, so schnell zusammenbrechen würde, wobei unsere Waffen nicht Gewehre, sondern brennende Kerzen waren. Inzwischen ist mehr als ein halbes Jahr vergangen, und ich glaube daher sagen zu können, dass der Prozess der Einheit wirklich nicht zu schnell geht. Wir haben nichts überstürzt, und wir werden auch künftig Schritt für Schritt vorangehen. Aber die Schritte müssen sichtbar und spürbar sein. Denn der Prozess der Ein­heit lässt sich nicht in die Länge ziehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dem Lande am besten dienen, wenn wir die Einheit nicht nur gut, sondern auch schnell vollziehen.

Was wir jetzt besonders brauchen, sind Selbstvertrauen und Zuversicht. Gründergeist habe ich es kürzlich einmal genannt, was heißen soll: Lasst uns mutig anfangen. Wir sollten nicht in erster Linie und vor allem Probleme sehen, sondern die Chance. Wir dürfen jetzt nicht die Hände in den Schoß legen und warten, was da kommt Es kommt wenig in Bewegung, wenn wir nicht selbst zupacken. Es geht aber auch nicht, dass Einzelinteressen mit Streiks durchgesetzt werden. Wir müssen das Ganze im Auge behalten. Es gibt auf allen Gebieten viel, sehr, sehr viel zu tun. Es gibt Arbeit in Hülle und Fülle, und es wird auch viele neue Arbeitsplätze geben. Natürlich wird mancher dazulernen oder einen anderen Beruf ergreifen müssen. Aber das geht in einer modernen Industriegesellschaft vielen so. Man lernt nicht mehr einen Beruf fürs ganze Leben, sondern man muss mit den Entwicklungen mitgehen. Auch ich selbst übe inzwischen meinen 3. Beruf aus. Die Arbeitsplätze der Zukunft, das belegen die Entwicklungen in allen Industrieländern, setzen Flexibilität voraus. Und das haben wir doch in der DDR gelernt.

Die SED hat uns einen riesigen Berg von Problemen hinterlassen. Die Bilanz ist erschütternd. Wir haben auf fast allen Gebieten schwierigste Zustände geerbt. Und die Probleme, die wir bewältigen müssen, sind nicht die Probleme von heute, sondern die Folgen des alten Systems. Die Art und Weise, in der viele Regionen unseres Landes buchstäblich geschädigt worden sind, ist unbeschreiblich. Bitterfeld ist nur ein Stichwort für die vorsätzliche Zerstörung unserer Umwelt und die ständige Gefährdung der Gesundheit vieler Mitbürger. Doch auch diese Probleme werden wir lösen. Dass die Bundesrepublik bereit ist, uns gerade auch auf diesem Gebiet besonders schnell und entscheidend zu helfen, sollte uns allen weiteren Mut machen.

Die Investitionsbereitschaft von Unternehmen aus dem Westen ist groß. Bei meinen Gesprächen in den USA, Frankreich und Großbritannien haben mir Unternehmer konkrete Projekte vorgestellt, die mit Investitionen in der DDR Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen. Meine Gespräche in Brüssel haben mich die europäische Solidarität spüren lassen.

Und bei meinen Gesprächen in Moskau ging es auch darum, unsere traditionellen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen auch im Interesse unserer Arbeitsplätze zu sichern und auszubauen.

Mit der neuen Währung werden uns neue Chancen angeboten. Nutzen wir sie, aber lassen wir uns von ihnen nicht treiben. Ich kann schon verstehen, dass viele nach jahrzehntelangen Entbehrungen möglichst schnell alles nachholen wollen, was ihnen vor enthalten wurde. Aber das geht nicht. Bedenken Sie bitte, dass die Zeiten des Mangels vorüber sind. Es wird vieles einfacher werden. Ich empfinde es als eine große Erleichterung für alle, vor allem aber für die berufstätigen und die alleinerziehenden Mütter, dass sie künftig nicht mehr wertvolle Freizeit, die eigentlich ihren Kindern gehört, mit Schlangestehen verschwenden müssen.

Ich danke der Bundesregierung, und ich danke dem Bundestag und der Volkskammer. Ich danke auch besonders der Opposition in unserem Lande, deren Argumente ich keineswegs überhört habe. Sie waren wichtige Hilfen bei der ständigen Überprüfung des eigenes Weges.

Sachliche Kritik ist immer hilfreich. Und ich danke auch ausdrücklich denen, die den Staatsvertrag im einzelnen ausgehandelt haben. Es war ein gewaltiges Stück Arbeit. Ich möchte auch ausdrücklich allen Bank- und Sparkassenangestellten danken, die in diesen Wochen Übermenschliches leisten. Ihrem unermüdlichen, manchmal auch nervenaufreibenden Einsatz ist es zu danken, wenn in diesen Tagen alles seinen geordneten Lauf nimmt Und wer in diesen Tagen zulange in den Schlangen vor den Geldinstituten stehen musste, möge ein Nachsehen haben. Es ist hoffentlich das letzte mal, dass wir lange anstehen mussten.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, der 1. Juli 1990 ist ein wichtiges Datum in unserer Nachkriegsgeschichte. Wir vollziehen morgen einen entscheidenden Schritt in die materielle Freiheit. Dabei wird es Probleme und Sorgen geben. Ich verkenne das keineswegs. Aber es wird von nun an auch bei uns aufwärts gehen. Wir haben mit Hilfe der Bundesrepublik Deutschland Chancen, die kein anderes Land in Osteuropa hat. Nutzen wir sie. Der Blick zurück ist ein Blick im Zorn. Der Blick nach vorn ist ein Blick mit Zuversicht und Hoffnung.

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